Montag, 31. August 2015

Meine Singer 720G

Wir müssen nicht nur von geliebten Menschen Abschied nehmen, sondern manchmal sind es auch die Abschiede von den alltäglichen Dingen, die uns umgeben. Oft ist es das Auto, das so lange gefahren wird, bis es nicht mehr geht. Nicht umsonst werden die Schrottplätze oder im Geschäftsdeutsch die Autoverwertungen liebevoll Autofriedhöfe genannt. In unserer rationalen Welt haben diese Abschiede selten einen Platz, obwohl auch sie sehr traurig sein können.

Ich selbst musste mich nach 44 Jahren von meiner geliebten Nähmaschine, einer Singer 720G, verabschieden. Ich danke I. Naumann für seinen schönen Text über die Singer 720G im Nähmschinenverzeichnis (www.naehmaschinenverzeichnis.de) und ich danke Lisa Lösel (www.lisalosel.com) für ihre Leidenschaft an den Geräuschen, die eine Nähmaschine von sich gibt. Beide haben mich inspirierte eine Abschiedshymne für meine Nähmaschine zu schreiben.

Leb wohl, liebe Nähmaschine,
du warst noch nicht ein Jahre alt und ich war 14 als wir uns trafen. Gebaut wurdest du von der Fima Singer. Damals las ich eine Anzeige in der Frauenzeitschrift Für Sie, dass die Firma Singer in Kiel einen Nähwettbewerb ausrichten wird. Ich war sofort begeistert: Ich wollte teilnehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie auf einer Nähmaschine genäht, doch ich wusste ganz genau, welches Kleid ich mir nähen wollte und es war leicht, meine Mutter zu überzeugen, dass ich mich anmelden durfte. So fing unsere Geschichte an. Das Unglaubliche wurde war und ich gewann in meiner Altersgruppe den Wettbewerb und damit gewann ich dich, meine geliebte Nähmaschine. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich war so stolz und glücklich, dass ich dich mit nach Hause nehmen durfte.

Jetzt müssen wir nach vielen Jahren, die wir miteinander geteilt haben, Abschied nehmen und ich möchte dir für die gemeinsame Zeit danken: In all diesen Jahren warst Du immer für mich da. In den ersten Jahren haben meine Mutter und ich dich sehr oft nachts aus dem Schlaf geholt, ich, weil ich die Rocksäume gekürzt, meine Mutter, weil sie die Säume länger gemacht hat. Egal, ob ich Seide, Kunstfaser, Cord oder Samt, Lackstoff oder Plastiktüten nähen wollte, Du hast alles mitgemacht. Du hast dicken Jeansstoff genauso genäht wie dünnen durchsichtigen Polyesterstoff. In deine integrierten voreingestellten Stiche habe ich mich sofort verliebt. Besonders den Bogen, den du aus kleinen Einzelstichen zusammensetzt, habe sehr oft benutzt. Damit konnte ich jeden Stoff nähen, der sich in 2 Richtungen dehnte wie es vor allem bei T-Shirts der Fall ist.

Es war so einfach mit dir neues Garn aufzuspulen. Ich musste nicht umständlich den Faden neu einfädeln, ich schob nur ein kleines Knöpfen zur Seite und schon hast du gespult. Wenn die Spule voll war, bist du einfach langsamer geworden. Es war die perfekte Kommunikation. In den ersten Jahren wollte ich nur Kleider und vor allem Miniröcke für mich nähen. Es waren die 70er Jahre und wir Mädchen waren alle verrückt nach sexy Outfits. Meine Jeans schnitt ich auf der Höhe des Schnitts ab und nähte die aufgeschnittenen Beine quer als Rock wieder an. Diese Technik verwende ich heute immer noch, mindestens ein Jeansrock dieser Machart hängt in meinem Kleiderschrank.

Im Studium hast du mir treu zur Seiten gestanden, in dieser Zeit habe ich mich getraut meine ersten Hosen zu nähen. Buntfaltenhosen waren damals absolut in, ich entwickelte einen Faible für Stilbrüche: Seriöser Schnitt, verrückter Stoff. Also habe ich meine Buntfaltenhose aus rosa Lackstoff genäht, ja du hast auch bei Lackstoffen nicht gestreikt. Bei meinen Freunden war ich mit meiner Nähmaschine immer gern gesehen, weil wir in der Studentenzeit viel improvisiert haben. Auch ein Ölbild, das meinen damaligen Kater zeigt und heute noch in meiner Wohnung hängt, war ein Tausch mit einem Künstlerfreund: Hose gegen Bild. Doch ich muss Dich um Verzeihung bitten, es gab eine Zeit, in der ich dich nur einmal im Jahr herausgeholt habe um ein Kleid oder ein Nachthemd zu nähen. Du hast einige Jahre einfach im Schrank gestanden. In den Keller habe ich dich nie abgeschoben, das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Vergessen habe ich dich selbst in diesen Jahren nicht.

Du hast dir deinen Kummer nicht anmerken lassen, wenn ich dir nicht nur dicken Mantelstoff, sondern auch gestrickte Plastiktüten zum nähen gegeben habe. Du hast nicht gestreikt, sondern in deiner unverkennbaren ruhigen Art eine Naht nach der anderen genäht. Wenn ich mal eine Spule zu voll gemacht hatte und der Faden sich verhedderte, dann hast du tapfer gekämpft um die Naht zu Ende zu bringen. Nur, wenn der Faden riss, dann konntest du auch nichts mehr ausrichten und bliebst stehen. Du nahmst es nicht so genau, ob die Oberfadenspannung mit der Unterfadenspannung richtig übereistimmte. Du warst mit mir nachsichtig wenn der Oberfaden viel dicker war als der Unterfaden. Du hast trotzdem genäht. Nie werde ich dein leises surrendes Lied vergessen, das unsere gemeinsamen Abenteuer begleitete, wenn deine Nadel tanzend in den Stoff eindrang und den Unterfaden mit dem Oberfaden zur einer festen Naht verschlang. Du warst unermüdlich, du hast dich meiner Geschwindigkeit angepasst und auch bei einem Drachennähprojekt nicht gemuckt, nicht aufgegeben oder dich beschwert. Du hast es als deine Ehre angesehen jeden einzelnen Stich dieser 100 m Naht gleichmäßig perfekt zu setzen.

In all den Jahren warst du nur 2-mal in Reparatur, aber in den letzten Jahren haben sich deine Plastikrädchen sehr abgenutzt. Deine Zipperlein wurden mehr und du warst recht störungsanfällig. Dann kam der Tag, an dem ich Abschied nehmen musste. Ein langes fadenreiches Nähmaschinenleben ist nun zu Ende gegangen. Hab Dank für Deine Treue, ich werde dich immer in Erinnerung behalten.

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